Freitag, 24. Oktober 2008

Ab in den Wald

Heute geht's los in den Wald. Ich freue mich schon riesig. Die Minusgrade nachts sind in meinem Daunenschlafsack leichter auszuhalten, als die überheizten Räume hier in Kogalym. Ich fahre erst einmal zum nenzischen Rentierzüchter und Schriftsteller Jurij Vella. Und werde dann einige seiner Nachbarn besuchen, die so 30 bis 60 km entfernt von ihm wohnen.



Sein Winterwohnplatz liegt ungefähr 100-150 Kilometer nordöstlich von Kogalym. Google Earth gibt die Koordinaten mit 62°47'00 n. L. und 76°01'33 ö.Br. an. Wer übrigens selbst den Sommerwohnplatz suchen will, er liegt bei 62°44'06 n.L. und 76°00'59 ö.Br. Südlich davon befindet sich ein Erdölfeld mit dem unaussprechlichen Namen 'Povchskoje'. Über den Bohrmeister, nach dem es benannt ist, dann mehr, wenn ich wieder aus dem Wald zurück bin.



Bei Jurij Vella werde ich hoffentlich mein Rentier zu Gesicht bekommen. Jetzt ist wieder Tauwetter und solange die Schneedecke noch nicht fest ist, kommt die Rentierherde nicht als Ganzes zum Winterwohnplatz. Es sind erst ungefähr sieben Tiere gesichtet worden. Die Gesamtzahl der Tiere in der Herde darf man nicht nennen, das bestrafen die Götter, aber es sind bestimmt mehr als 60. Vielleicht werden wir das Rentier den Göttern opfern. Ich habe auf jeden Fall schon sieben Meter Stoff und eine Flasche Vodka gekauft. Das Jungtier, dass hinter seiner Mutter hervorlugt, hat den Sommer hoffentlich gut überstanden. Es war im April 2008, als diese Fotos entstanden, gerade ein Jahr alt.

Donnerstag, 23. Oktober 2008

Allein zu Haus

Gestern sind meine Gastgeber abgefahren. Ich habe mich nach den Jungs auch an den Computer gesetzt und über "sterben und sterben lassen" (den Ego-Shooter Counter-Strike) fast die Realität vergessen.






Computer, Multimedia-Mobiltelefon und DVD-player haben das gute alte Fernsehen an Popularität bei den Jungs bereits weit überholt. Vor dem Fernsehen sitzen die Frauen und schauen Seifenopern, MTV und "Dom 2" (die russische Variante von "Big-Brother"). Sie wollten dabei aber nicht fotographiert werden.



Ein junger Chante, der auf dem Erdölfeld arbeitet, erzählte mir von den Arbeitsbedingungen dort. Die Schichten dauern einen halben oder ganzen Monat mit ebensoviel Freizeit anschließend. Die tägliche Arbeitszeit beträgt 10 Stunden plus zwei Stunden Pause, so dass die Arbeiter 12 Stunden-Schichten haben. Nimmt man die Fahrzeit auf die Erdölfelder hinzu, reicht die Zeit zu Hause gerade zum Schlafen. Seine Freizeitperiode geht gerade zu Ende und er will jetzt zu seinem Onkel in die Taiga um dort mit dem Zugnetz zu fischen. Er wird die gefangenen Hechte seinem Vorgesetzten mitbringen, der es dann mit der Arbeitszeit und -disziplin nicht so ernst nimmt. Diese Beziehungen und Gefälligkeiten, manchmal auch Bestechungen bilden eine informelle Ökonomie oder Schattenwirtschaft. Das ist aber die Art des Austauschs von Gütern, den die Chanten untereinander und mit den Russen seit undenklichen Zeiten betreiben. Man tauscht nicht nur Gegenstände und ihr Äquivalent, das Geld sondern auch soziale Bindungen und Verpflichtungen.

Dienstag, 21. Oktober 2008

Geburtstag

Ich habe beschlossen, meinen Geburtstag auf Chantisch zu begehen. Nämlich gar nicht. Habe mir hier in der Hotelbar, in der ich das W-Lan nutze, eine Büchse Bier gekauft. Es geht mir zunehmend besser. Meine chantischen Gastgeber haben heute die erste Miete für mein Zimmer angenommen. Genauer gesagt hat die Hausfrau, die, wie bei den Chanten üblich, das Geld verwaltet, dieses wie ein heißes Eisen fallengelassen und dann vom Küchenfußboden wieder aufgehoben. Am Abend soll man kein Geld mehr von Leuten annehmen, es darf jedoch vom Fußboden aufgehoben werden. In der trockenen Luft und den überheizten Räumen schlafe ich immer noch schlecht, meine Innereien rumoren, aber ich hoffe, bald in den Wald zu kommen und dann wird sicher alles besser. Ich habe heute auch eine SIM-Karte für mein Handy bekommen. Jetzt kann ich mit den Rentierhirten in der Taiga ebenso wie ins Gefängnis nach Surgut telefonieren.




Mit den roten Pfeilen habe ich markiert, wo ich wohne. Auf der Satellitenkarte aus Google-Earth sieht man die eigentliche Stadt mit dem roten Pfeil. Die anderen Stadtteile sind Industriegebiete und Datschensiedlungen (Wochenend-Grundstücke). Um die Stadt herum erkennt man die Sümpfe und die Wasserflächen der meist kreisrunden Seen.






Auf dem Plan der Stadt aus dem Museum sind auch die Stadtviertel eingezeichnet, die nie gebaut wurden. Sie war eigentlich doppelt so groß geplant. Ende der 80er Jahre ließen der Ölboom und damit auch der Zuzug nach. Die Bevölkerung wächst trotzdem ganz leicht. In Russland hofft man, dass mit dem Klimawandel die Unwirtlichkeit des Nordens abnimmt und mehr Menschen herziehen werden. Die Stadtbewohner fühlen sich hier wie auf einer Insel inmitten eines unwirtlichen und unheimlichen Ozeans in dem alleine die Straßen auf die Ölfelder führen.



Die Stadt versucht der Monotonie der Plattenbauten zu entkommen. Man stellt Denkmäler an jeder Ecke auf, die Straßen werden mit Gitterchen begrenzt und Kioske und Hauseingänge bekommen klassizistische Giebelchen. Kogalym gilt als eine der wohnlichsten und ordentlichsten Städte hier im Norden. Es ist die Hauptstadt und Perle der Erdölfirma LUKOIL, des zurzeit größten und mächtigsten russischen Erdölunternehmens.





Das Häuschen mit den Bögen ist eine Bushaltestelle und der Rundbau mit Wasserrad ist ein Café, das eine Wassermühle darstellen soll. Wie die meisten Cafés ist es so gestaltet, dass man nicht auf die Straße sehen aber ebenso auch nicht hineinsehen kann. Wie eine russische Kollegin mir erklärte fühlen sich die Menschen hier unwohl wenn ihnen Passanten auf den Teller schauen können. Warum man Cafébesucher aber deshalb in Gebäuden unterbringen muss, die eher mittelalterlichen Verliesen ähneln konnte ich noch nicht herausfinden. Leider war das Café geschlossen.




Bänke und Blumenkübel verschönern den Aufenthalt auf den Straßen nur im Sommer, aber auch dann stehen sie etwas verloren herum. Sollte mich hier trotz der wunderschönen Umgebung doch noch eine Depression packen werde ich mir die Komödie 'Bella Ciao' ansehen. An Kultur wird in Kogalym jedenfalls nicht gespart.





Im Augenblick teile ich mir tagsüber das Zimmer noch mit chantischen Jungen, die vor allem Ego-Shooter und Autorennen am Computer spielen. Gestern waren sie bis nach Mitternacht unterwegs und haben mit Freunden in der Stadt auf der Straße Bier getrunken, weil ihnen die Bars und Diskos zu teuer waren. Dabei sind ihnen Hausschlüssel und Handy verloren gegangen, aber sie haben Glück gehabt und jemand hat ihnen wenigstens das Handy geborgt, so dass sie ihre Mutti anrufen konnten, die ihres zufälligerweise nicht ausgeschaltet hatte. Ein jüngerer Bruder, der Sportler ist und deshalb nicht trinkt, hat heute das Handy im Schnee in der Nähe des Wochenmarktes wiedergefunden.

Montag, 20. Oktober 2008

Kogalym



Kogalym, Erdölstadt, 60 000 Einwohner. Die Stadt ist neu, wurde vor nicht einmal 30 Jahren gegründet. Offiziell sind hier rund 200 Ureinwohner, Chanten und Nenzen polizeilich gemeldet. Das heißt, dass sie hier Wohnungen haben, die sie sich von den Entschädigungen der Erdölfirmen gekauft haben, die auf ihren Rentierweiden nach Öl bohren. Es gibt jeglichen Komfort hier. Geheizt wird so heftig, dass man es bei -10 Grad draußen nur mit geöffnetem Fenster aushalten kann. An jeder Ecke Geschäfte, die rund um die Uhr geöffnet haben. Alle möglichen Bars, Diskotheken und Restaurants, um sich die Tage und Nächte zu vertreiben, die zwischen den Schichten auf den Erdölfeldern liegen. Dort arbeiten die Leute zwei oder vier Wochen und erholen sich dann ebenso lange in der Stadt. Zwei Drittel der Bewohner ziehen über kurz oder lang doch wieder von hier fort. Der Rest würde wohl auch gerne, hat es aber doch nicht geschafft, sich auf der 'Bolshaja Zemlja', dem Kontinent (wörtlich 'der großen Erde') eine Wohnung oder ein Haus zu kaufen. Die einzigen, die hier bleiben wollen, sind die, deren Vorfahren hier in der Taiga begraben liegen. Für die jungen Chanten und Nenzen ist die Stadt der Ort, wo das Leben spannend ist. Aber man muss Geld, das heißt einen guten Job haben, um die Konsummöglichkeiten nutzen zu können. Wer das nicht hat, hängt einfach ab, vor allem mit Alkohol, Rauchen und Musik aus dem Handy in den zugigen Aufgängen der Neubaublocks.





Eine Freundin sitzt für vier Jahre im Gefängnis in Surgut, weil sie mit einem Messer einen Mann abgestochen hat, der das allerdings überlebte. Sie war im Frühjahr noch auf freiem Fuß, obwohl der Prozess schon gelaufen war. Hat sich dann eine Weile im Wald versteckt, aber schließlich ist sie wegen einer Behördensache unvorsichtigerweise in die Stadt gefahren und wurde dann sofort verhaftet. Der Strafvollzug ist einigermaßen locker, erzählte mir eine Freundin, die regelmäßig mit ihr telefoniert. Sie wohnt in einer Art Wohnheim mit Bewachung, muss arbeiten und kann Besuch bekommen. Eigentlich ist jede Art von Telefon verboten, aber alle dort haben Handys, die sie aber verstecken müssen. Es war ihr peinlich, dass ich erfahren habe, dass sie im Gefängnis sitzt, aber die Freundin, die mit ihr telefoniert, hat ihr erzählt, dass sich das sowieso nicht verheimlichen lässt. Ich hoffe, ich kann ihr ein paar Fotos, die ich von ihr gemacht habe, als Erinnerung zukommen lassen. Weiß noch nicht so recht, wen ich nach der Postadresse fragen soll. Ihre Freundin gab sie mir nicht.

Sonntag, 19. Oktober 2008

Berlin - Moskau - Kogalym

Am 17.10. in Berlin losgeflogen, Übernachtung in Moskau, am 18.10. in Kogalym, Westsibirien eingetroffen.



Der Aufbruch war wie immer stressig. In Berlin wollte man mich nicht gehen lassen, hier wollte man mich nicht aufnehmen. Aber wie immer in Russland: Vsjo budjet, alles wird. Irgendwie.


In Kogalym gelang es mir bis zu meiner Ankunft nicht, trotz stundenlangen Telefonierens in den letzten Wochen, eine Unterkunft zu finden. Tolik, ein fülliger Lastwagenfahrer aus Moldawien, bot mir schließlich, nachdem ich schon am Flughafen gestrandet war, sein Wochenendgrundstück am Rand der Stadt an. Ein ehemaliger Bauwagen aus Blech mit einem eisernen Ofen und ein paar Kanistern mit Trinkwasser. Es liegt hier bereits seit Tagen Schnee und die Temperatur ist schon unter - 10° Celsius gefallen. Ich traf dort im Bauwagen eine lustige Gesellschaft, den bereits erwähnten Tolik, seine beiden Söhne, einen Freund von ihm, und Vaska mit seinem Sohn Vladik, Rentierzüchter die aus der Taiga nach Kogalym gekommen sind, weil Tolik ihnen beim Kauf eines Geländewagens helfen soll. Wir tranken Tee. Tolik hat viele Freunde unter den Rentierzüchtern vom Volk der Chanten. Sie reparieren auf seinem Grundstück ihre Autos und er hilft ihnen bei Angelegenheiten in der Stadt, dafür gehen sie mit ihm auf die Jagd und er bekommt Rentierfleisch und Fisch. Es gehören ihm sogar einige Rentiere.




Ich hatte Glück und Vaska bot mir ein Zimmer in seiner Wohnung in der Stadt an, die er gerade gekauft hat. Zuerst musste er aber noch am Telefon seine Frau um Erlaubnis fragen. Über einen Preis konnten wir uns auch noch nicht einigen, aber es wird auf jeden Fall teurer als meine Wohnung in Halle/Saale. Ich wohne jetzt in einem Kinderzimmer mit Teddy-Tapete, in dem sonst der 18-jährige Vladik bleibt.