Sonntag, 19. April 2009

Auf dem Wohnplatz der Sopochins


Zwischen dem Fest des „Tages des Rentierzüchters“ im Dorf Russkinskaja und dem in der Stadt Kogalym wohne ich im Wald bei Josif Ivanovich Sopochin, einem der wichtigsten Rentierzüchter in der Region Kogalym. Ich bin bereits bei den vorherigen Forschungsaufenthalten bei seiner Familie zu Gast gewesen und er war fast gekränkt, dass ich es im Winter nicht geschafft habe, bei ihm vorbeizuschauen. Bei jedem Aufenhalt werde ich ein wenig mehr in den Alltag der Familie integriert. Josif Ivanovich ist sehr misstrauisch gegenüber jeder Form von Medien. Sein verstorbener Vater Ivan Stepanovich war einer der wichtigsten und meistgefilmten Schamanen der Region und Josif hat deshalb schon mit Journalisten und Forschern unangenehme Erfahrungen machen müssen, die intime Detail der Familie offenbarten. So mache ich während meines Aufenthaltes überhaupt keine Fotos von der Familie von Josif Ivanovich. Umso mehr lerne ich darüber, wie die Tradition aus Josifs Sicht richtig nach außen hin dargestellt werden soll. Jeden Morgen werden die Rentiere, die in der Umgebung die Flechten unter dem Schnee suchen zum Haus getrieben.


Hier lassen sie sich freiwillig in eine Umzäunung sperren, weil sie wissen, dass sie hier von den Frauen mit Futter versorgt werden.


Mit dem Lasso gefangene Tiere werden vor die Schlitten gespannt, bekommen Markierungen des Besitzers in die Ohren geschnitten oder Jungbullen werden kastriert.



Es sind die ersten Tage, an denen die Sonne den Schnee zum Tauen bringt, und so müssen die Fellstiefel jeden Tag zum Trocknen aufgehängt werden.


Einen besonderen Augenmerk schenke ich in meiner Forschung der Bedeutung des Wegenetzes, dass sich durch die Erdölfelder grundlegend verändert hat. Heute können viele Rentierzüchter mit dem Auto von der Stadt fast bis zu ihren Wohnplätzen im Wald fahren. Früher war das nur mit dem Rentierschlitten möglich. Auch an den Autowegen finden sich die traditionellen mit der Axt angebrachten Wegmarkierungen, die auch bei schneeverwehten Wegen die Orientierung ermöglichen. Diese Art von Markierung heißt Wakem-Juch.

Dienstag, 31. März 2009

Dienstag, 24. März 2009

Wiedersehen mit Familie Kechimov

Drei Tage nach dem Fest in Numto mache ich mich auf zu der nächsten ähnlichen Veranstaltung im Dorf Jubilejnoe am Fluss Tromagan. Ich fahre mit Erdölarbeitern in einem Bus aus Surgut. Sie werden von einem Beauftragten der Erdölfirma instruiert, wie sie mit Chanten und Rentieren umzugehen haben. Den Rentieren solle man nicht zu nahe kommen, da diese halbdomestizierten Tiere beißen könnten und auch mit betrunkenen Chanten solle man sich besser nicht einlassen, sondern gleich nach dem Ende des Rentierschlittenrennens zum Bus zurückkehren. Als dem Reiseleiter mitteile, dass man auf mich nicht zu warten brauche, da ich im Dorf bleiben wolle, schaut er mich an, als zweifle er an meiner Zurechnungsfähigkeit.

Ganz im Gegensatz zu Numto ist die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit in Form der Ausflügler aus der Stadt und auch von Fernsehkameras deutlich spürbar. Gegen Mittag machen sich diese jedoch davon und am Nachmittag, als die Wettbewerbe im Wettrennen der Frauen, Lassowerfen und Erklimmen eines Holzmastes stattfinden, erst recht jedoch in der Disko am Abend sind die Einwohner bereits unter sich.


Ich erhalte die etwas zweifelhafte Ehre mit den angereisten Offiziellen und Journalisten an einem extra reich gedeckten Mittagstisch in der Dorfschule versteckt vor den Teilnehmern und angereisten Touristen Platz zu nehmen. Diese Art von Ausgrenzungen und Abgrenzungen, die Kulissen, die bei diesen Festen die Dinge hinter der „Bühne“ von denen auf der Bühne trennen, sind Thema meiner Forschung hier.

Hier im Dorf treffe ich auch viele Bekannte, die bei dem schweren Autounfall vor anderthalb Monaten Verwandte verloren haben. Vladimir Kechimov, dessen Vater umgekommen ist, erzählt mir, dass man sich am nächsten Tag auf den Familienfriedhof in der Taiga zu einer Gedächtnisfeier versammeln werde und willigt ein, mich mitzunehmen.

Eine ganze Gruppe von Freunden und Verwandten macht sich am Morgen mit dem Motorschlitten auf zum Wohnplatz im Wald.

Ich nehme am Mahl der Angehörigen mit den Toten und der Opferung eines Gespanns Rentiere teil, um es mit einem Schlitten den Toten ins Jenseits mitzugeben, muss aber versprechen, keine Fotos davon ins Internet zu stellen.

Zu Gast bei Vasilij Pjak

Auf dem Rückweg aus Numto machen wir Halt bei Vasilij Pjak, dem wichtigsten Rentierzüchter der Gegend und Vizepräsident des Verbandes der Rentierzüchter der Region Chanty-Mansijsk. Auch in seiner Hütte gibt es nur eine Petroleumlampe, mit Hilfe einer Autobatterie können wir jedoch am Abend noch DVDs auf einem kleinen Bildschirm sehen, wie sie für den Betrieb in Autos verkauft werden. Später schlägt Vasilij dann auch noch die Schamanentrommel. Am nächsten Morgen mache ich Portraits von den Gästen auf dem Wohnplatz und von den Rentieren, die Vasilij in das Gatter neben dem Holzhaus getrieben hat.

Freitag, 20. März 2009

Das Fest der Rentierzüchter am Himmelssee

Am 16. März breche ich zu meiner dritten und letzten Reise zu den Chanten innerhalb meines Forschungsprojektes für die Dissertation auf. Meine Gefühle sind gemischt. Die Tour mit der Filmemacherin Olga Kornienko aus Surgut ließ mir nicht viel Zeit, mich in Ruhe vorzubereiten. Ich kann die Reise aber auch nicht verschieben, weil ich rechtzeitig zu den Festivals zum „Tag des Rentierzüchters“ in den Chantensiedlungen sein will.
Während des Zwischenstops auf dem Flughafen Vnukovo in Moskau werde ich von Olga Kornienko angerufen, ob ich bereit sei, am nächsten Morgen nach meiner Ankunft nachts um zwei Uhr in Surgut weiter in eines der entlegensten Dörfer der Region, nach „Numto“ (übersetzt „der Himmelssee“), zu fahren, um das dortige Rentierhalterfest zu besuchen. Ich zögere nicht und sage zu.


Die Fahrt dorthin dauert einen ganzen Tag, zuerst mit dem Kleinbus über die Betonstraßen der Erdölfelder und die letzten 40 km auf dem Motorschlitten.
Die Temperatur ist hier noch unter 20 Grad minus. Wir fahren mit einem Angestellten der Erdölfirma Surgutneftegaz, die in der Region von Numto neue Erdöllagerstätten erschließt und deshalb als Hauptsponsor des Rentierzüchterfestes auftritt. Der Chantenbeauftragte der Erdölfirma trägt die chantische Kleidung aus Rentierfell, die Maliza und die Fellstiefel. Ich bin überrascht, auch die Verwaltungschefin der Administration in einem reichverzierten chantischen Mantel zu sehen.


Sie verteilt die Preise für die verschiedenen Disziplinen im Rentierschlittenrennen, das die Hauptattraktion des Festes darstellt. Die Gewinner werden u.a. mit einem Bootsmotor, einer Motorsäge, einem Elektrogenerator ausgezeichnet, die Gewinnerin unter den Frauen erhält eine Nähmaschine.
Am schwierigsten ist die Disziplin stehend auf dem Rentierschlitten, nur eine Handvoll Teilnehmer absolviert die ganze mehr als anderthalb Kilometer lange Strecke ohne herunterzufallen.


Das Fest endet in einem grandiosen Besäufnis, mit dem traurigen Ergebnis, dass am nächsten Morgen ein junger Mann erfroren vor seinem Haus gefunden wird. Der einzige Polizist, der in das kleine Dorf mit etwas mehr als hundert Einwohnern und weniger als hundert Gästen nur für das Fest gekommen ist, kann kaum mit den gewalttätigen Betrunkenen fertig werden.


Im Gegensatz zu den Festen zum Tag des Rentierzüchtern in den anderen chantischen Dörfern, die in den nächsten Wochen bis Anfang April stattfinden werden, gibt es in Numto keine Ausflügler aus den umliegenden Städten. Entsprechend gab es auch kein Kulturprogramm und auch die abendliche Disko fiel aus, weil der Dieselgenerator, der sonst das Dorf für ein paar Stunden jeden Tag mit Strom versorgt, ausgefallen war. Wir sitzen im Holzhaus unserer Gastgeberin bei einer rauchenden Petroleumlampe.


Sie berichtet, dass das Rentierzüchterfest in diesem Jahr hier erst zum zweiten Jahr stattfindet. Der abnehmenden Mond Eigentlich hätte das Rentieropfer, das am Vortag stattfand, um den Götter wohl zu stimmen, bei abnehmendem Mond nicht stattfinden dürfen. Es sind viel weniger Schlittengespanne als im letzten Jahr und einige Gäste haben Wodka mit ins Dorf gebracht, den sie für den drei und vierfachen Preis verkaufen (im Dorfladen ist der Alkoholverkauf untersagt). Trotzdem ist es eines der wichtigsten Ereignisse in diesem Dorf, an dem die Beziehungen der Bewohner zu den staatlichen Institutionen und der Erdölindustrie wie in einem Brennglas gebündelt werden.



Freitag, 20. Februar 2009

Traurige Nachricht

Vor einer Woche erreichte mich eine schreckliche Nachricht. Ich sah auf einer Internetseite eine Meldung von einem schweren Autounfall bei Kogalym am Abend des 2. Februar, in den ein Fahrer mit dem Namen Kechimov verwickelt war und bei dem alle Insassen ums Leben gekommen waren. Ich rief sofort bei meinen Freunden in Sibirien auf dem Handy an und erfuhr, dass Vasilij Nikitovich und sein fünfzehn Jahre alter jüngerer Sohn Nikolaj Vasilievich Kechimov im Auto saßen. Bei dem Autounfall starben noch vier weitere Chanten, die ich auch kannte. Ich kann es immer noch nicht begreifen. Die Hälfte der Familie, bei der ich die meiste Zeit des Winters verbracht habe, ist nicht mehr auf dieser Welt. Ich habe auch bei früheren Reisen erfahren, dass Tod, Gewalt und Krankheit bei den Rentierzüchtern in Sibirien viel sichtbarer und spürbarer im Alltag sind, als ich das hier gewöhnt bin. Aber, dass der Tod so unvermittelt ins Leben bricht, direkt neben mir, schockiert mich doch. Die Lebenserwartung in Russland liegt rund 10 Jahre unter dem europäischen Durchschnitt und die Lebenserwartung der Rentierzüchter ist noch einmal rund 10 Jahre niedriger als der russische Durchschnitt. Aber das ist keine Erklärung für diesen schrecklichen Unfall. Ich sehe uns noch alle zu fünft im Holzhaus der Kechimovs sitzen, höre das Lachen nach den Scherzen von Vasilij und sehe den sportlichen Kolja einen Handstand versuchen. Ich hoffe, dass ich ihnen in diesem Blog ein bescheidenes Denkmal setzen konnte.

Es wird nicht leicht werden, im März nach Sibirien zurückzukehren, um die letzten zweieinhalb Monate meiner Feldforschung dort zu verbringen.





Donnerstag, 22. Januar 2009

Zurück in Halle/Saale

Jetzt bin ich wieder zurück in Halle, werte meine Tagebücher aus und versuche das Erlebte in die Struktur einer wissenschaftlichen Arbeit zu überführen. Das bedeutet doppelte Übersetzungsarbeit: einmal die Welt meiner Gastgeber in meine Welt und dann meine Welt in die Welt der Wissenschaft.

Die letzten Tage habe ich in Westsibirien wieder bei der Familie von Juri Vella verbracht. Wir haben noch ein Rentier geschlachtet und ich habe den Treiber für den Scanner installiert, der nach dem letzten Totalabsturz des Computers nicht mehr funktionierte.




Welche Themen werde ich in meiner Doktorarbeit behandeln? Es wird vor allem darum gehen, wie die Rentierzüchter sich zwischen der Welt der Stadt und dem Wald, zwischen Erdölfeldern und Rentierweiden, zwischen Diskotheken und Opferplätzen bewegen. Dabei wird es weniger um diese Art von Gegensatzpaaren gehen, sondern um die Vielfalt der Praktiken und Räume, in denen sich das Leben als Ganzheit abspielt. Die chantischen Rentierzüchter haben dafür eine über die Jahrhunderte der Kolonisierung, Christianisierung, Sovjetisierung und nun Kommerzialisierung entwickelte Strategie der Konflikte vermeidenden Abgrenzung entwickelt. Auch innerhalb der chantischen Gemeinschaften gibt es zahlreiche Formen, voreinander Distanz zu wahren und doch miteinander zusammenzuleben. Zwischen Frauen und Männern, zwischen den Generationen, zwischen verschiedenen Clans und Familien und zwischen Menschen, Göttern und Geistern.

Viel Zeit kann ich mir mit der Auswertung jetzt nicht nehmen, denn im März werde ich bereits wieder nach Westsibirien aufbrechen, um die Rentierzüchterfeste zu dokumentieren, bei denen die Chanten ihre Kultur der Stadtbevölkerung präsentieren.

Ende Februar bekomme ich noch Besuch von Olga Kornienko, einer Dokumentarfilmerin aus Surgut, die Filme über die Chanten nach Deutschland bringen wird. Sie wird sie am 28. Februar und 1. März in Stuttgart anlässlich der Schamanenausstellung im Lindenmuseum zeigen. Weitere Filmvorführungen werden am 22. Februar im Grassimuseum Leipzig, am 3. März im Kino Krokodil in Berlin und am 7. März in Neustrelitz stattfinden. Ihr seid alle herzlich dazu eingeladen.
Fall jemand noch eine Idee für ein Filmscreening hat: ich bin unter der Emailadresse

dudeck(at)eth.mpg.de erreichbar.

Euer Stephan Dudeck